... Forschungsinstitut in Göttingen (SOFI) durchführt. Im Interview gibt das Forschungsteam Einblicke in die Forschungsarbeit - und präsentiert erste, spannende Erkenntnisse.
Unter dem Titel „Gesellschaftsbilder von Betriebsrätinnen, Betriebsräten und Vertrauensleuten der IG Metall“ wollen die Wissenschaftler*innen Martin Kuhlmann, Milena Prekodravac, Stefan Rüb und Marliese Weißmann zusammen mit dem Geschäftsführenden Direktor des SOFI, Berthold Vogel, erforschen, wie sich ehrenamtliche Funktionäre der IG Metall in der Gesellschaft verorten, was sie als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ausmacht. Klar ist: Sie sind das Herz der Gewerkschaft. Aber woher nehmen sie die Kraft, sich für eine große Solidargemeinschaft zu engagieren? Und wie nehmen sie ihre Macht wahr, für was setzen sie diese ein? Die SOFI-Studie wird darauf Antworten geben. Im Interview gibt das Team Einblicke in die Forschungsarbeit - und präsentiert erste, spannende Erkenntnisse.
Lieber Prof. Vogel, Sie führen derzeit eine sozialwissenschaftliche Studie mit dem Titel „Gesellschaftsbilder von Betriebsrätinnen, Betriebsräten und Vertrauensleuten der IG Metall“ durch. Was genau ist mit „Gesellschaftsbildern“ gemeint, was muss man sich unter ihnen vorstellen?
Prof. Berthold Vogel: Mit Gesellschaftsbildern sind Vorstellungen gemeint, die Menschen sich von sich selbst und von der Gesellschaft, in der sie leben, machen. Es sind umfassende, wiederkehrende Gedankengebilde, mit denen Menschen sich selbst und ihre Rolle in der Gesellschaft, also den Platz, den sie in ihr einnehmen, beschreiben und wahrnehmen. Wichtig ist: Gesellschaftsbilder haben niemals nur eine einzige Quelle, aus der Erfahrungen und Vorstellungen fließen, also etwa den Arbeitsplatz oder Betrieb. Für die Herausbildung und Verfestigung von Gesellschaftsbildern spielen offensichtlich auch andere Erfahrungen eine zentrale Rolle, etwa familiär geprägte Wahrnehmungen oder Eindrücke aus dem lokalen Umfeld.
Zusammen mit ihrem Team möchten Sie herausfinden, wie Betriebsrät*innen und Vertrauensleute der IG Metall auf die Gesellschaft blicken, wie sie sich in ihr verorten und welche Handlungsmöglichkeiten sie sich zuschreiben. Wie wollen Sie zu Ergebnissen kommen?
Vogel: Das SOFI ist bekannt für qualitative Forschung in der Arbeits- und Industriesoziologie, und auf dieser Linie bleiben wir auch im Gesellschaftsbilder-Projekt. Dabei interessieren wir uns auch für den Alltag der Betriebsrät*innen und Vertrauensleute. Wir gehen nun davon aus, dass das Bild, das sich aktive Gewerkschafter von der Gesellschaft machen, nicht nur von ihren Erfahrungen mit der Arbeit und im Betrieb abhängt. Betriebsrätinnen, Betriebsräte und Vertrauensleute haben Familie, sie leben in einer Nachbarschaft, sind in Vereinen oder der Feuerwehr aktiv, sitzen für eine Partei im Gemeinderat. Das alles zusammen genommen prägt Gesellschaftsbilder. Mit unserer Studie wollen wir die Gesellschaftsbilder, die aktive Gewerkschafter haben und die sie zugleich mitprägen, sichtbar machen.
Wie gehen Sie in Ihrer Studie vor?
Stefan Rüb: Für die Untersuchung haben wir uns überlegt, dass es gut wäre, in zwei Schritten vorzugehen. Methodisch ausgedrückt: Wir machen zuerst eine Exploration, also eine Sondierungsphase - und dann starten wir mit einer Intensiverhebung, mit einer Hauptphase. Im ersten Schritt gehen wir in die Breite und sprechen mit Betriebsrät*innen und Vertrauensleuten dort, wo sie aktiv sind: in den Betrieben, in einigen Geschäftsstellen, in den Bildungszentren. Wir führen dazu (Einzel-)Interviews und moderieren Gruppendiskussionen. Im zweiten Schritt, in der Hauptphase, begleiten wir Betriebsrät*innen und Vertrauensleute über einen längeren Zeitraum hinweg. Unser Ziel ist dabei auch, mit ihnen in ihrem sozialen Umfeld unterwegs sein zu können, im Verein, in der Nachbarschaft oder bei einer politischen oder kulturellen Veranstaltung. Wir wollen so tief wie möglich in das Leben der Betriebsrät*innen und Vertrauensleute eintauchen und möglichst unterschiedliche Aspekte ihres Lebens mitbekommen.
Das Forschungsprojekt läuft über zwei Jahre. An welchem Punkt ihrer Studie sind Sie jetzt angelangt?
Milena Prekodravac: Derzeit befinden wir uns in einer Zwischenphase. Anfang des Jahres waren wir schon viel in Geschäftsstellen und Bildungszentren unterwegs. Dann kam Corona. Einige Gruppengespräche mussten auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Abstandsregeln und Reisebeschränkungen haben Verabredungen unmöglich gemacht. Die Zeit nutzten wir insbesondere dafür, die bereits vorhandenen Daten auszuwerten, um dann gezielt weiter vorgehen zu können.
In diesen Wochen startet die „Intensiverhebung“. In dieser will sich ihr Team an den „Untersuchungsdimensionen Position, Macht, Demokratie, Solidarität, Zukunft und den Ebenen Betrieb, Gewerkschaft und Gesellschaft ausrichten.“ Was bedeutet das konkret?
Marliese Weißmann: Die genannten Dimensionen geben uns Orientierung für unsere Fragestellung. Wir wollen herausfinden: Mit welchem Selbstverständnis und Verständnis von Gesellschaft gehen Betriebsrätinnen, Betriebsräte, Vertrauensleute an ihre Arbeit heran und gestalten ihren Alltag im und außerhalb des Betriebs? Um diese Frage beantworten zu können, müssen vorab weitere Fragen gestellt werden. Zum Beispiel: Was heißt für Betriebsrät*innen und Vertrauensleute „Zukunft“, wie schauen sie ihr entgegen: für sich, für andere, den Betrieb, Gewerkschaft und schließlich auch für Gesellschaft insgesamt? Was verbinden die Ehrenamtlichen der IG Metall mit Solidarität? Mit wem ist man solidarisch? Und wovon hängt das ab?
Wenn Sie uns einen Blick in Ihren vorläufigen Forschungsstand gewähren: Wie erleben die Kolleginnen und Kollegen ihre eigene Handlungsmacht?
Martin Kuhlmann: Das lässt sich in unserer jetzigen Forschungsphase nur sehr grob fassen, wir stehen ja noch relativ am Anfang unserer Forschung. Prinzipiell aber gilt: Die Handlungsmacht unterscheidet sich danach, ob die Befragten den Eindruck haben, ihr betriebliches Umfeld gestalten zu können. Die Erfahrung von Handlungsmacht schwindet da, wo im Betrieb ein entscheidungsmächtiges Gegenüber nicht mehr präsent ist, die betriebliche Entwicklung also in starkem Maß als von Konzernentscheidungen abhängig erlebt wird. Spannend ist nun: Die Erfahrung fehlender Handlungsmacht im Betrieb strahlt oftmals auf die Frage der Gestaltungsfähigkeit des eigenen Lebens selbst aus. Sie prägt das Gesellschaftsbild insgesamt.
Wie nehmen die Kolleginnen und Kollegen ihre Macht wahr - und für was setzen sie diese ein?
Weißmann: Diese Frage wird im Mittelpunkt unserer Forschungen stehen. Aber wir haben schon jetzt eine erhebliche Spannweite angetroffen: Einige sehen ihren Einfluss und nehmen ihn aktiv war. Manche reagieren auf das, was jeweils aktuell notwendig erscheint. Wieder andere kämpfen darum, überhaupt etwas bewegen zu können. Auch beim Fokus des Handelns sehen wir Unterschiede: Manche haben mehr als genug mit den Problemen in ihrem Betrieb zu tun. Etliche bemühen sich, auch über den eigenen Betrieb hinaus aktiv zu sein und gesellschaftlich zu wirken oder engagieren sich in ihrem persönlichen Umfeld. Vielen bereitet die allgemeine politische und gesellschaftliche Lage aber auch Sorgen - das war auch schon vor Corona so.
„Die Betriebsräte“ - das ist ja ein bunter Haufen: Was ist es, was sie am stärksten verbindet?
Vogel: Bunter Haufen trifft es gut. Was sie verbindet, ist ihr Amt, das ja ein Wahlamt ist, und ihre Mitgliedschaft in der IG Metall. Wir sehen nun: Dieses Amt wird auf ganz unterschiedliche Weise ausgefüllt. Das Selbstverständnis, mit dem sie an ihre Arbeit herangehen und ihre Rolle ausfüllen, ist von ihrer Persönlichkeit, ihrer Biografie und politischen Sozialisation, aber auch von den betrieblichen Problemlagen und Handlungsmöglichkeiten geprägt. Andererseits gilt für die allermeisten, dass sie sich gern engagieren, gern Stellung beziehen und sich für Kollegen und Kolleginnen einsetzen wollen. Gerade solche Dinge verbinden Betriebsrätinnen und Betriebsräte über alle sonstigen Unterschiede hinweg.
Wie erleben Betriebsräte und Vertrauensleute es, heutzutage Gewerkschafter zu sein? Wo verorten sie sich innerhalb der Gesellschaft?
Prekodravac: Niemand der Befragten sieht sich als Außenseiter oder Außenseiterin. Alle Gesprächspartner machen deutlich, dass die Themen der Gewerkschaft - Mitbestimmung, Transparenz, Gemeinschaft, Solidarität - mitten in der Gesellschaft stehen. Viele sehen es als Auftrag und Verantwortung, diese Werte nach außen zu vertreten. Gewerkschaft gibt Rückhalt. Überrascht hat uns, wie stark die IG Metall als eine starke Gemeinschaft erlebt wird, deren Stärke auf die eigene Arbeit ausstrahlt. Solidarität ist als Wert weiterhin ein zentraler Bezugspunkt. Zugleich wird vielfach beklagt, dass solidarisches Handeln im Verschwinden begriffen sei. Und ein Punkt, auf den wir häufiger gestoßen sind: gerade Betriebsrätinnen und Betriebsräte werden auch in ihrem privaten Umfeld häufig als Expert*innen beispielsweise für arbeitsrechtliche Fragen angesprochen.
Ein wichtiger Aspekt Ihrer Forschung ist der Gedanke, dass Arbeit ein prägender Teil des Lebens ist - aber eben nicht der einzige. Ansichten und Einsichten bilden sich vielmehr im Zusammenspiel unterschiedlicher Lebensbereiche. Lassen sich bereits Aussagen über das Zusammenwirken der verschiedenen „gelebten“ Rollen treffen?
Kuhlmann: Zeit ist eine ungemein wichtige Ressource - auch für Betriebsrät*innen, die häufig rund um die Uhr für die Kolleg*innen erreichbar sind, ihnen persönlich, per Messengerdienst oder Telefon mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das Engagement beginnt und endet nicht „am Drehkreuz“, wie einige unserer Gesprächspartner*innen meinten. Eine Beobachtung ist, dass das richtige Maß an Engagement auch im persönlichen Umfeld gefunden werden muss. Da geht es vielen Betriebsrätinnen und Betriebsräten wie anderen auch, die stark in ihrer Tätigkeit engagiert sind: Wann sage ich auch mal nein? Wo ziehe ich eine Grenze? Wann sind mit Familie, Freund*innen oder mein Hobby wichtiger? Auf diese wichtigen Fragen kommen wir im zweiten Teil der Studie noch sehr viel ausführlicher zu sprechen.
Wie hat sich das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Corona-Zeiten verschoben?
Vogel: Die Pandemie trifft die Betriebe in sehr unterschiedlicher Weise. Manche mussten stark herunterfahren und sind in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Andere haben die Produktion weitgehend aufrechterhalten. Betriebsrät*innen haben oft intensiv an den Hygiene- und Sicherheitskonzepten mitgewirkt. Bezogen auf mobiles Arbeiten und Homeoffice war auf einmal sehr viel mehr möglich und notwendig, insofern ist mitunter auch: ‚Ja, geht doch!’ zu hören. Selbstredend bezieht sich das nicht auf die Produktionsbereiche. Dort hat sich in dieser Hinsicht wenig verändert. Die Unterschiede und manchmal auch die empfundenen Ungerechtigkeiten sind sogar eher größer geworden. Mittlerweile treten verstärkt die ökonomischen Folgen in den Vordergrund. Ob Corona eine echte Zäsur für Arbeit und Leben darstellt, ob es zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen kommt und wie die gewerkschaftlich Aktiven dies erleben und hierüber denken, ist aber erst noch zu klären. Auch darauf werden wir in unserem Projekt natürlich schauen.
Was sind nächste Schritte, wie geht es weiter?
Rüb: Wir sind gerade dabei, unsere bestehenden Kontakte auszubauen und Betriebsrät*innen und Vertrauensleute für unsere weiterführenden Erhebungen zu gewinnen. Ohne die Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen und ihre Bereitschaft, mitzutun, wird es nicht gehen. Aber wir sind sehr zuversichtlich. Die Resonanz auf unser Projekt ist sehr gut und wir haben schon heute viele interessante Eindrücke gewonnen, was Betriebsräte und Vertrauensleute umtreibt. Unsere Neugier ist gewachsen - und das ist immer das Beste, was Forscherinnen und Forscher sagen können, wenn sie mitten in einem Projekt stecken.
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